„Die Fähigkeit, zu beobachten, ohne zu bewerten, ist die höchste Form von menschlicher Intelligenz.“
Jiddu Krishnamurti
Kipppunkt, logischer Narzissmus und emotional turn
Das AMOC System steht kurz vor dem Kipppunkt. Sobald dieser erreicht ist (was nach neuesten Studien in diesem Jahrhundert, möglicherweise schon in den kommenden Jahren, der Fall sein könnte), werden in hoher Geschwindigkeit Küstenstädte geflutet, Ernten einbrechen, der Amazonas absterben, Europa abkühlen, Landschaften sterben, Regionen dahinsiechen, Milliarden Menschen ortlos werden – um nur einige der mit einiger Wahrscheinlichkeit schon bald anstehenden Veränderungen anzudeuten.
Solche Informationen über den Zustand des zunehmend als hochgradig vernetzt, reflexiv und fühlend erscheinenden Erdsystems sind schmerzhaft, erschreckend und unfassbar. Diese Wahrnehmung erzeugt im betroffenen Lebenssystem einen inneren Widerstand, der dazu nötigt, unangenehme, schmerzhafte Erkenntnisse ins Reich der Fantasie zu verweisen oder als wissenschaftlich verbrämte Spekulation zu diskreditieren. Die Verdrängung des Offensichtlichen fällt insofern leicht, als die bevorstehende Gefahr aus Computerdaten generiert und mehrheitlich kaum im Ansatz, geschweige denn in ihren wahren Dimensionen spürbar ist.
Natürlich gibt es bereits Menschen, die sich entgegen dem vorherrschenden logischen Narzissmus (Uwe Voigt, Das Anthropozän als geistige Umweltkrise) diesem Spüren hingeben und sich darin üben, ihr Spüren als Instrument der Erkenntnis wiederzuentdecken. Dabei gelingen gegenwärtig erstaunliche und erfreuliche Fortschritte – gesellschaftlich wie individuell. Die bedrohliche Schwellenzeit ist in erster Linie eine Zeit des wahrnehmenden Bewusstseins. Der gesellschaftliche Diskurs wird sich zunehmend fragwürdig und erlangt einen Grad der Abstraktion, der die Entwicklung metaphilosophischer und metamoderner Perspektiven (Hanzi Freinacht) ebenso begünstigt wie leibliche Übungen zur Erkundung der Differenz und Identität von Selbst- und Fremderfahrung samt ihrer emotionalen und geistigen Inhalte.
Meditative phänomenologische Untersuchungen werden elementarer Baustein in Bildungssystemen, metamodernes transdisziplinäres Systemdenken fließt in alle Disziplinen ein. Schon die nächste Generation wird auf äußerst vielfältige Weise in diesen Standard hineinwachsen und die Welt ursprünglich erleben und gestalten – intensiver, weitsichtiger, vernetzter, fühlender, komplexer, einfacher, beglückender, schmerzhafter, liebevoller, dankbarer, verantwortungsvoller als heute. Die Erkundung innerer Reiche führt von der individuellen Perspektive unmittelbar zu transpersonalen Sichtweisen, die beglückende Erlebnisse echten Mitgefühls sind. Dieser in den 80er Jahren geborene emotional Turn ist in heute in vielen Wissenschaften angekommen und wirkt therapeutisch bis in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hinein.
„Ein und dieselben Techniken bieten wir an für Menschen, die an einer Depression leiden, aber auch bei irgendwelchen DAX-Vorständen, die ein Coaching brauchen. Und das illustriert ganz gut, dass, welche Rolle Emotionen spielen, wie wir uns verhalten, welche Determinanten es gibt für unser Verhalten, dass das Ganze nicht nur im psychiatrischen Kontext relevant ist, sondern eben auch für unser alltägliches Leben.“
Malek Bajbouj
Die therapeutische Bewegung nimmt Fahrt auf. Sie ist ein ideales Schwungrad, um sich auf sich selbst zu besinnen und dabei über sich hinaus zu wachsen. Verschüttete und verklebte Gefühlsräume tauchen auf, fluten unsere Seelen und unser Blick darauf erinnert uns an den ewigen Zauber der Welt, der ein aus Liebe erwachsen(d)es Geschenk ist. So werden aus der gelebten Präsenz Versöhnung und Frieden möglich. Die Welt ein einziger freudvoller Austausch von Geben und Nehmen, Werden und Vergehen, In- und Auseinanderfließen – selbst Hass und Zerstörung und Tod erfahren liebevolle, fruchtbringende Aufmerksamkeit und Zuneigung.
So schön das alles klingt, ist es doch zu schön, um wahr zu sein. Etwas Elementares fehlt. Das Fühlen wird in der weltweit rationalen Kultur bislang überwiegend nur konzeptionell erfasst und bleibt weiterhin auf Distanz. Kaum jemand taucht in Gefühlswelten ein, ohne dabei zu denken. Dabei zeigen viele therapeutische Methoden Wege auf, um sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken, sich seiner Gefühle, Stimmungen, Dispositionen und Gedanken gewahr zu werden, sie meditativ fließen zu lassen wie die Gedanken und den eigenen Atem. Die Erscheinungen kommen und gehen und wir können sie dankbar ziehen lassen. Dahinter - oder besser davor - erscheint unser wahres Selbst, das sich von kosmischen fließenden Energien nährt.
Wir erfahren uns als geistig-seelische Wesen und erleben in einem intuitiven – leiblich vermittelten - Augenblick die Welt als geistiges Geschehen. Alles, was uns erscheint, sind wir selbst als kosmische Wesen. Wenn wir jetzt den Blick heben und fühlend in die Welt schauen, erleben wir eine Wiedergeburt alles Lebendigen und Beseelten (die Seele als fühlendes Gewoge in und zwischen uns) in jedem Gegenüber, jedem Menschen, jedem Stein, jeder Landschaft, jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Himmelskörper, jedem Sternenstrom. Wir sehen und wir werden gesehen. Diesen sublimen, intimen, beseelten, verkörperten Blick in die lebendige Welt gilt es hingebungsvoll zu erforschen und zu üben. So können wir unsere Menschlichkeit einfühlsam - geerdet UND geistig - weiterentwickeln.
Wie sich diese Sichtweise auf das Wirken in Industrie, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst, Gesellschaft etc. auswirkt, ist nicht absehbar. Es gilt allein, sich darauf einzulassen, sich dem unendlichen Strom hinzugeben, der in tiefstem Grunde atmend Leben liebevoll gibt und nimmt und durch den Tod hindurch gebiert.