"Im Ringen um mehr Nachhaltigkeit bemerken wir oft nicht, wie sehr unsere Wahrnehmung von einem technischen, toten Bild der Wirklichkeit dominiert wird, das die Wissenschaft lange gezeichnet hat. Unsere Fähigkeit zu erfassen, was uns und die Welt lebendiger macht und damit immer auch nachhaltig und schön, bleibt bei Entscheidungen oft außen vor. Aber wir können unsere Lebendigkeit neu entdecken und entfalten - in einer Praxis bewussten, fühlenden Seins und der schöpferischen Imagination. Die Werkstatt vermittelte Prozesse und Praktiken, um gemeinsam ein neues Denken jenseits überkommener Muster zu üben, einander zu inspirieren und ins Handeln zu begleiten."
Die Lebendigkeitswerkstatt am 7. Oktober 2023 fand statt in Kooperation mit Schöpfung bewahren konkret e.V. und der Kirchengemeinde St. Jobst im Rahmen des vom Umweltbundesamt geförderten Projekts "Gemeinsam auf dem Weg: Bis30auf30". Dozentin war Dr. Hildegard Kurt, Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Mitbegründerin des und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V. und Mitbegründerin der erdfest-Initiative (und-institut.de, erdfest.org)
Eine rote Rose stand im inmitten des Stuhlkreises in einer Vase auf dem Boden – als mehr-als-menschliche Perspektivenerweiterung und bewusst in Szene gesetzte Hommage an die Rose für Direkte Demokratie. Auf der documenta 5 hatte Beuys 1972 für die gesamte Dauer der Ausstellung sein „Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ eingerichtet – eine symbolträchtige Rose war dabei eine wesentliche Akteurin. Da die Rose jeden Tag gewechselt wurde, waren es also am Ende 100 Rosen, die für diese partizipative Performance ihr Leben ließen. Wie sie wohl geduftet haben mögen? Besonders in den Rosenblättern sah Beuys das Potenzial transformativer Entwicklung: „Knospe und Blüte sind tatsächlich umgewandelte grüne Blätter. Im Verhältnis zu den Blättern und dem Stiel bedeutet die Blüte also eine Revolution, die sich aber ganz langsam durch Transformation und Evolution vollzieht.“
Aufs Jahr genau 50 Jahre nach Kassel: „Unsere“ Rose im Gemeindesaal in St. Jobst kam - wie mittlerweile die meisten ihrer Art – aus Afrika. Sie hat die Fähigkeit zu duften verloren. da der züchterische und geschäftige Wunsch nach längerer und häufigerer Blütezeit und nach kräftigeren Farben mit starkem Duft unvereinbar ist. Zudem geht intensiver Geruch oft einher mit weniger widerstandsfähigen Blütenblättern, was den Transport duftender Rosen über lange Strecken erschwert. Zugunsten der Transportfähigkeit verzichten international tätige Schnittrosenproduzenten also auf den Geruch.
So begann die Lebendigkeitswerkstatt in Anbetracht und Gegenwart einer in olfaktorischer Hinsicht verarmten Rose, die sinnfällig ganz weit weg war von ihrem eigentlichen Wirkungskreis und Lebensgewebe, wodurch sie im gegenwärtigen Wahrnehmungsraum und Gedankenfeld eine ganz eigene, geistige Note transformativen Duftes entfaltete. Die sinnliche Begegnung mit den Körpern, Faltungen und Aromen gründlich gereifter Äpfel brachte uns bald auf eine weitere Spur hin zur dialogischen Erkundung des Lebendigen in seinem Werden und Vergehen, in all seiner Verletzlichkeit und Wandlungsfähigkeit. In Stille erkundeten wir tastend und sinnierend unsere Wahrnehmungs- und Denkräume. Dann durften uns einem aktiv zuhörenden Menschen mitteilen und unsere sprachliche Ausdrucksfähigkeit erproben und im Wechsel auch selbst Zeuge sein, wie ein menschliches Du sich offenbart – mit Worten und Gesten, die das Gedachte, Gemeinte und Gefühlte zu fassen und zu zeigen versuchen.
Wir durften im gegenseitigen Gehört- und Gesehen-Werden erleben, wie sich über die Grenzen der Sprache hinaus der Zauber des Verstehens und Verstanden-Werdens entfaltet, der seinerseits begrenzt ist in dem, was wahrhaftig empfunden und gewusst und mitgeteilt werden will und kann. Der stolze Zweifel des objektivierenden Verstandes schwingt immer mit und kann sich nicht einfach leichtfertig einer Stimmung ergeben. Oder ist der Zweifel selbst auch nur eine Stimmung? Wieviel von dem Nektar ist genießbar und verdaulich und ab welcher Menge macht er flugunfähig? Das kann nur jede*r für sich selbst erkunden auf seinem und ihrem Flug von Blüte zu Blüte. Zumal die Ernte auch noch sicher nach Hause gebracht und geteilt werden will.
Als unsere Sinne und Denkweisen mit dem gegenwärtigen Lebensgewebe in Berührung gekommen waren, ging es auf Visionssuche – begleitet von Melodien aus der Feder Georg I. Gurdjieffs. Die Aufgabe war, sich ein Wesen aus der Zukunft vorzustellen, das einem wohlgesonnen ist. Welche Botschaft hat dieses Wesen, das weiß, was die kommenden Jahrzehnte mit sich bringen, an mich persönlich heute? Mir kam ein Buchenwald in den Sinn – ich war mittendrin, konnte ihn sehen, hören, riechen und spüren. Sogleich diktierte „er“ mir (oder etwas diktierte in mir in seinem Gewand):
„Schön, dass wir bei dieser Gelegenheit zusammenkommen und ich dir einige Hinweise geben kann, worauf es jetzt und in naher Zukunft für dich ankommt. Mir geht es gut und dafür danke ich Menschen wie dir. Ich konnte die letzten Jahre wieder frei atmen und mich ungestört entfalten. Ich, das sind alle Lebewesen in, auf und über der Erde und in der Luft … wir dürfen hier sein und lebendig sein. Manchmal kommen Menschen zu uns und teilen mit uns die Schönheit des lebendigen Zusammenseins. Jetzt, da du das liest, scheint das wie eine Illusion – noch wird der Wald bewirtschaftet, die Tiere bejagt und von lebendiger Vielfalt kaum eine Spur. Deshalb sage ich dir: Störe dich nicht an den Widerständen, sondern erforsche weiter den Bereich der Begegnung mit dem lebendigen Sein in deiner unmittelbaren Umwelt. Nimm wahr, was da ist und sich zeigen will. Lass dieses Geschehen wachsen und reifen und teile diese Weise, die Welt zu erfahren. Genau das brauchen wir, um Raum und Ruhe zu erfahren und in Stille zur Wahrheit dessen zu kommen, was Leben in all seiner Vielfalt sein kann.“
Als der Raum war für Impulse wagte ich einen Beitrag - von dieser Waldvision angeregt. Es schwang mit die Erinnerung an eine Veranstaltung mit dem Netzwerk „Rechte der Natur“, auch kam mir das am Nieuwe Instituut Rotterdam entwickelte Zoöp Modell in den Sinn: Ich würde gerne lernen und daran mitwirken, die Stimme der Natur wahrzunehmen und zu Gehör zu bringen. Welche Kompetenzen, welche Einfühlung, welches Wissen sind dafür erforderlich, wie lassen sich die Anliegen der Natur vermitteln und umsetzen? Wie können wir für die Natur, im Namen der Natur sprechen und handeln, um die Würde der Natur (die ja auch die unsere ist) zu wahren und ins Recht zu setzen?
Die Resonanz zu meinem Vorhaben bzw. Impuls war sehr vielfältig, konstruktiv und hilfreich – hier einige Stimmen:
Suche Verbündete im politischen, gesellschaftlichen Feld, die ähnliche Fragen haben und die deine Kompetenzen dialogischer Art suchen.
Binde Akteure des Netzwerks Rechte der Natur ein bei der Frage: Wenn wir die Rechte der Natur geltend machen wollen, müssen wir uns doch erst einmal mit der Natur in Verbindung setzen und die Natur verstehen, bevor wir für sie sprechen. Wie können wir das lernen?
Gehe auf Lebewesen (Tiere, Pflanzen,…) zu, teile dich mit und warte auf Antwort. Höre, was sie zu sagen haben.
Wenn ich die Rechte eines Flusses, des Lechs zum Beispiel, vor Gericht vertreten will, dann muss ich doch die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Lechs erstmal verstehen. Wie schaffe ich das? Wenn ich treuhänderisch mitwirken will, daran, dass der Lech sein Existenzrecht bewahrt und sich seinem Wesen gemäß entwickeln kann, muss ich ja erst einmal wissen, was das Wesen ist. Also hat es eine große politische und juristische Dimension.
Ich plädiere sehr dafür, uns in diesem ganzen Kontext vom Wort „Natur“ zu verabschieden. Philippe Descola ist ein Anthropologe, der ganz viel in Südamerika mit Indigenen gearbeitet hat und festgestellt hat, dass die ein Konzept wie „Natur“ gar nicht kennen. Allein dieses Konzept „Natur“ ist schon ein Ergebnis ist unserer verarmten Beziehung zum Lebendigen. Natur ist so ein Sammelbegriff, in den alles hineingepackt wird, was nicht wir sind. So ein generischer Begriff, der alles und nichts umfasst. Der Begriff „Natur“ ist ein Zeugnis unserer verarmten, leeren Beziehung des Westens. Wenn ein Mensch eine solche Praxis „Wie können wir mit der lebendigen Mitwelt kommunizieren?“ voranbringen will, ist es immer auch hilfreich zu sagen: So etwas wie „Natur“ ist Teil des Problems und nicht der Lösung – wenn wir genauer hinschauen, sehen wir es sofort: Die Indigenen kennen bestimmte Baumarten, bestimmte Wasserqualitäten, bestimmte Erdformen … damit setzen sie sich auseinander … nicht mit „Natur“.
Wer wunderbare Kompetenzen hat, sich mit der lebendigen Mitwelt auseinanderzusetzen, sind die Permakultur Akteure. Die Grundfrage der Permakultur lautet, soweit ich weiß: Acker, wer bist du? Das ist so ähnlich wie unsere Frage an den Apfel: Was erfahre ich von dir? Permakultur fragt nach einem bestimmten Feld, nach dessen Bedürfnissen und Fähigkeiten. So fängt jede Kommunikation auf Augenhöhe an. Wenn ich versuche, die Bedürfnisse und Fähigkeiten meines Gegenübers zu erkennen und zu sehen. Die Permakultur ist ein Verbündeter erster Güte.
Respekt … respectare … noch einmal hinschauen … nicht drüber hinwegschauen und sagen, es ist Natur. Tief schauen. Sorgfältig schauen. So beginnt eine andere Qualität der Kommunikation.
Praxis aus dem Kunstfeld heraus entwickeln, dabei auch Beuys als Mentor heranziehen.
Wie können wir echtes Kommunizieren finden? Begriffe wollen erlöst werden -> Sprache wandeln aus dem Gegenwärtigen heraus. Großes Bedürfnis nach Verbundenheit. Sehnsucht, mit einem Baum in Berührung zu kommen. „Nur über das Begreifen kann ich aktiv werden.“ => Erdung stärken statt Gedankenwelt
Von wem können wir wirklich lernen, abgesehen von der Permakultur? Können wir noch von den Indigenen lernen, wie man in Verbindung geht? Wer ist ein vertrauenswürdiger Lehrer?
Tatsächlich gibt es heute solche vertrauenswürdigen Lehrer*innen, deren Stimme auch Gehör findet, wie zum Beispiel Robin Wall Kimmerer mit „Geflochtenes Süßgras“. Oder Tyson Yunkaporta mit: Sand Talk. Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt. Es gibt sehr viel Literatur dieser Art – viel davon ist zu finden unter dem Begriff „Nature Writing“. Auch Andreas Weber ist ein vertrauenswürdiger Lehrer. Es ist eine weltweit stattfindende Suche. Wir alle spüren die Notwendigkeit, uns solches Wissen wieder anzueignen.
Die unbelebte Natur und Technik gehören zu unserer Welt dazu, man sollte dies ganzheitlich mitbedenken.